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In eigener Sache: Mein neues Filmbuch

Einigen Lesern ist bestimmt aufgefallen, daß ich in der rechten Spalte meines Blogs seit längerer Zeit das Cover meines neuen Buchs präsen...

Mittwoch, 6. September 2017

A SILENT VOICE (2016)

Originaltitel: Koe noe Katachi
Regie: Naoko Yamada, Drehbuch: Reiko Yoshida, Musik: Kensuke Ushio
Sprecher der Originalfassung: Miyu Irino, Saori Hayami, Aoi Yuki, Kensho Ono, Yui Ishikawa, Mayu Matsuoka, Yuki Kaneko, Fuminori Komatsu, Satsuki Yukino, Takuya Masumoto, Ryo Nishitani, Megumi Han, Akiko Hiramatsu
 A Silent Voice
(2016) on IMDb Rotten Tomatoes: 94% (7,6); weltweites Einspielergebnis: $31,6 Mio.
FSK: 6, Dauer: 130 Minuten.
Als die gehörlose Shoko Nishimiya neu in die Klasse einer japanischen Grundschule kommt, wird sie zunächst von den meisten mit respektvoller Neugierde empfangen. Die vermeintliche Sonderbehandlung, die Shoko durch die Lehrer bekommt, sorgt allerdings schnell dafür, daß Interesse in Mißgunst und Spott umschlägt. Obwohl er bei weitem nicht der einzige ist, tut sich besonders der angeberische Shoya Ishida darin hervor, die sanftmütige, schüchterne Shoko zu schikanieren – was schließlich dazu führt, daß er (und nur er) als Mobber bloßgestellt wird und Shoko die Schule verläßt. Als Shoya die Konsequenzen seines Tuns erkennt, schämt er sich und nimmt es reumütig an, daß durch seine öffentliche Bloßstellung nun er es ist, der von den anderen Schülern gemieden wird. Das ändert sich auch nicht, als er einige Jahre später in die Oberschule kommt, wo er sich bewußt von den anderen abkapselt – nur der pummelige, aber fröhliche Tomohiro freundet sich mit ihm an. Eines Tages beschließt Shoya, Shoko zu suchen, um sich endlich bei ihr zu entschuldigen. Das führt auf Umwegen auch zum Wiedersehen mit weiteren früheren Mitschülern, was eine Reflektion der damaligen und der aktuellen Denk- und Verhaltensweisen der Jugendlichen zur Folge hat, von denen sich einige weiterentwickelt haben – andere nicht so sehr …

Kritik:
Das international mit Abstand bekannteste japanische Animationsstudio ist ohne jeden Zweifel Studio Ghibli, die Heimat der Zeichentrick-Legende Hayao Miyazaki ("Prinzessin Mononoke", "Chihiros Reise ins Zauberland", "Wie der Wind sich hebt"). Natürlich gibt es im manga- und animeverrückten Japan noch zahlreiche weitere Studios, die qualitative Highlights hervorbringen – 2016 etwa Makoto Shinkais extrem erfolgreicher "Your Name." von CoMix Wave Films –, die erregen außerhalb ihrer Heimat aber selten größere Aufmerksamkeit (samt Kinoauswertung). Eine Ausnahme stellt "A Silent Voice" dar, ein unspektakulärer, aber sehr gefühlvoller Coming of Age-Film der Regisseurin Naoko Yamada ("K-On! The Movie") für Tokyo Animation. Auf der Grundlage der gleichnamigen erfolgreichen Mangavorlage von Yoshitoki Oima zeichnet Yamada ein glaubwürdiges Bild des Aufwachsens im Japan des frühen 21. Jahrhunderts – im Vorspann passend untermalt von The Whos "My Generation" –, das speziell mit (im doppelten Wortsinn) gut gezeichneten, authentischen Figuren beeindruckt.
"A Silent Voice" erzählt im Grunde genommen eine schlichte, nahezu alltägliche Geschichte und Regisseurin Yamada tut das betont unaufgeregt, wenngleich keineswegs ohne emotionale, gar dramatische Momente. Etwas ungewöhnlich ist einzig, daß mit Shoko eine Gehörlose eine Hauptrolle spielt, die ungewollt zum Katalysator von Ereignissen wird, die auf alle Beteiligten langfristige Auswirkungen haben – teilweise geringe, teilweise aber auch ziemlich drastische. Das Mobbing, dem Shoko ausgesetzt ist, wird in seiner Entwicklung von spitzen Bemerkungen bis hin zu körperlichen Übergriffen zwar sehr authentisch aufgezeigt, steht dabei aber gar nicht unbedingt im Zentrum der Handlung, eher dessen Folgen. Auch auf eine simple Schwarz-Weiß-Zeichnung verzichtet "A Silent Voice" – wo die Fronten zu Beginn noch klar zu sein scheinen mit dem Mobbing-Opfer Shoko auf der einen Seite, dem Obermobber Shoya auf der anderen und dem irgendwo dazwischen stehenden Rest, zeigt sich nach und nach, daß es so einfach eben doch nicht ist. Dabei gibt es zwei primäre Aspekte, die "A Silent Voice" thematisiert: Wie sich die Heranwachsenden als Folge der Mobbing-Episode entwickeln und verändern (oder eben nicht), aber auch, was wohl geschehen wäre, wäre Shoko nie in die Klasse gekommen.
Im Zentrum stehen die tatsächlichen Auswirkungen, die logischerweise einfacher darzustellen sind, doch die "Was wäre wenn?"-Frage hat durchaus ihren Reiz. Wäre Shoko gleich in die Schule gekommen, zu der sie nach dem Mobbing gewechselt ist und in der es ihr deutlich besser erging, hätte der bis dahin zwar ungestüme, aber nicht fiese Shoya dann einfach andere Schüler schikaniert? Oder wäre er zu einem freundlichen, verantwortungsvollen jungen Mann aufgewachsen, was letztlich bedeuten würde, daß Shoko rein kausal verantwortlich ist für seine Entwicklung zum Mobber und den anschließenden Absturz zum selbst Ausgegrenzten? Das wird man nie erfahren, aber auch die tatsächlichen Entwicklungen der Protagonisten sind sehr interessant anzuschauen. Im Vordergrund stehen natürlich Shoyas Bemühungen, seine Taten irgendwie wiedergutzumachen, wobei die gutmütige Shoko durchaus bereit ist, ihm zuzuhören – im Gegensatz zu ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Yuzuru, die nachvollziehbarerweise sehr protektiv Shoko gegenüber sind und den Jungen, der ihr einst so viel Leid zugefügt hat, am liebsten niemals wieder sehen wollen. Auch weitere frühere Klassenkameraden, die Shoya und Shoko nach und nach wiedersehen, haben interessante Entwicklungen durchlaufen, die auf ihr damaliges Verhalten – als Mobber, als Mitläufer oder als Mobbing-Gegner mit nicht genügend Mut, um aktiv einzugreifen – zurückgehen. Ich will nicht zu viel darüber verraten, weil "A Silent Voice" die (Selbst-)Erkenntnisse sich sehr überlegt entfalten läßt, aber es ist beeindruckend, wie es dem Film gelingt, die Ereignisse in der Grundschule aus allen möglichen Perspektiven Revue passieren zu lassen – selbst Shoko erkennt irgendwann, daß sie in gewisser Weise nicht vollkommen schuldlos an der Eskalation war.
So erzählt "A Silent Voice" bemerkenswert unaufgeregt seine Geschichte, die ebenso simpel wie tiefgreifend ist, eine universelle Geschichte von Freundschaft, Verantwortung, Veränderung und Erwachsenwerden. Der Zeichenstil erreicht zwar nicht ganz die atemberaubende Schönheit und Komplexität von Miyazakis Werken (deren Produktion viel länger dauert), überzeugt aber mit recht detaillierten, ausdrucksstarken Gesichtern, eleganten Bildkompositionen mit starren, aber sehr schön gezeichneten Hintergründen und ein paar interessanten Stilmitteln – Shoyas Außenseiter-Status auf der Oberschule wird beispielsweise dadurch illustriert, daß alle seine Mitschüler ein großes "X" auf den Gesichtern tragen, da er ihnen nie in die Augen blickt und sie für ihn somit gesichtslos bleiben. Eine simple, aber sehr effektive Methode, um dem Publikum Shoyas ziemlich depressive Gefühlswelt zu vermitteln. Hörenswert ist zudem die musikalische Untermalung durch Kensuke Ushio. Aufmerksame Beobachter werden übrigens bemerken, wie Regisseurin Yamada immer wieder geschickt (teilweise allerdings vermutlich für Nicht-Japaner schwer zu erkennende) Metaphern einbaut wie die Koi-Karpfen-Schule, die Shoko und Shoya gerne füttert und deren einzelne Tiere für die wichtigsten Figuren des Films stehen. Mit etwas über zwei Stunden ist das Ganze vielleicht ein bißchen lang geraten, aber dafür entschädigen die Handlung, die in der deutschen Synchonfassung passend besetzten Charaktere sowie ein wunderbares, zu Herzen gehendes Ende locker.

Fazit: "A Silent Voice" ist ein japanischer Animationsfilm, der unaufgeregt seine universelle Coming of Age-Geschichte erzählt, die vor ernsten Themen nicht zurückschreckt und sie mit beeindruckender Konsequenz von allen Seiten beleuchtet und analysiert, ohne zu akademisch zu werden.

Wertung: 8 Punkte.


"A Silent Voice" ist ab dem 26. September als Event-Programmierung in ausgewählten Kinos in Deutschland und Österreich im Rahmen der Kazé Anime Nights 2017 zu sehen und wird voraussichtlich am 16. März 2018 von Kazé Anime auf DVD und Blu-ray veröffentlicht. Eine Rezensionsmöglichkeit wurde mir freundlicherweise von der Themroc PR & Promotion Gbr zur Verfügung gestellt.


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2 Kommentare:

  1. In der Tat ein schöner Film, der gelungen klassisches Coming of Age mit doch sehr gewichtigen Themen verknüpft, die gerade in Japan zentrales soziales Problem sind (Klassen-Mobbing, Jugend-Suizid).

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    1. Klar, in Japan sind Suizide und ihre Ursachen natürlich generell ein schwerwiegendes gesellschaftliches Problem - gerade deshalb finde ich es beeindruckend, daß "A Silent Voice" dennoch so allgemeingültig gestaltet ist, daß die Geschichte wohl in so ziemlich jedem Land funktionieren würde.

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